Wer sind sie, die neuen Holzköpfe? Wie ist die Kunst dieser nahezu unbekannten und seit einiger Zeit bereits inaktiven selbsternannten ‘Bruderschaft’ aus Sankt-Petersburg in die Zürcher Kunsthalle gekommen? Und vor allem: Warum ist in dem Saaltext in großen kyrillischen Buchstaben zu lesen: “Fahren Sie zur Hölle, Liebhaber der Kunst”? Das sind nur einige Fragen, die ich beim Betreten der Ausstellungshalle im Sinn hatte.
Die Bruderschaft der neuen Holzköpfe wurde 1996 gegründet und umfasste eine Gruppe von Künstlerinnen, Philosophen und Schriftstellerinnen. Das gemeinsame Ziel der Bruderschaft war der Kampf gegen die Restriktionen, die die post-sowjetische russische Politik der Gesellschaft und insbesondere den Kulturschaffenden auferlegte. Die wichtigste Waffe der neuen Holzköpfe war die Performancekunst. Sie verwendeten Performance, um mit bestehenden Kategorien zu brechen. Ihre absurden künstlerischen Aktionen waren gewissermaßen eine reflexartige Reaktion auf die chaotischen Ereignisse im Russland der 90er Jahre.
“Ein stumpfes Leben lässt einen stumpfen Blick entstehen, ein stumpfer Blick erzeugt stumpfe Kunst, und das ist schon die Harmonie“, sagte einer der Gründer der Bruderschaft, Vadim Flyagin. Er und die anderen Mitglieder der Gruppe (Igor Panin, Sergey Spirikhin, Inga Nagel, Wladimir Kozin, Maxim Raiskin, Oleg Khvostov, Alexander Lyashko) führten in den sechs Jahren des Bestehens der Gemeinschaft etwa 100 verschiedene künstlerische Aktionen durch. Nach der Auflösung der Gruppe verschwanden die neuen Holzköpfe vom Radar des kulturellen Lebens von St. Petersburg. Lange war es still um die Bruderschaft, bis endlich Mini-Retrospektiven in Moskau und St. Petersburg im Jahre 2013 stattfanden. Öffentliche Anerkennung und Bekanntheit spielten für die Gruppenmitglieder keine besondere Rolle. Daher hatten sie während ihrer aktiven Schaffensphase auch kein Interesse daran, ihre Aktionen aufzunehmen und zu dokumentieren. Für die Bruderschaft der neuen Holzköpfe war die Performance eine lebendige Kunst, die im Hier und Jetzt geschah. Eine Retrospektive auf die Beine zu stellen, wie sie heute in Zürich zu sehen ist, bedeutete deshalb zunächst viel Arbeit: die Werke der Gruppe mussten in Archiven zusammengetragen werden, diese Bestände galt es dann zu sortieren und zu digitalisieren.
So kam es, dass der Direktor der Zürcher Kunsthalle, Daniel Baumann, im Jahr 2016 während einer Reise nach Moskau die Retrospektive der Holzköpfe im Moskauer Museum für Kunst der Gegenwart besuchte – und hellauf begeistert war. Es ist diesem Besuch zu verdanken, dass die Gruppe einem internationalen Publikum bekannt wurde und Besucherinnen der Kunsthalle Zürich die Werke der Gruppe zu sehen bekommen.
Das erste, was mir auffällt, ist die Vielzahl einzelner Fotografien, Videos, Objekte und Texte. Eine der Fotografien zeigt eine der früheren Performances des BNH. Die Performance „Bring dir selber sehen bei“ fand im Rahmen einer Abendveranstaltung der Borey Galerie statt und wurde im Mai 1996 von V. Flyagin, S. Spirikhin und I. Panin aufgeführt. Das Foto zeigt die drei Teilnehmer und Teilnehmerinnen, zwei von ihnen tragen Augenbinden, auf denen mit schwarzer Tinte Augen aufgetragen wurden.. Zwischen den Zähnen balancieren sie einen Löffel mit einer brennenden Flüssigkeit. Die Performance entstand als freie Visualisierung und Anspielung auf einen Text des deutschen Philosophen Martin Heidegger.
Igor Panin erklärt:
Die Performance ist nach folgendem Prinzip aufgebaut: drei Teilnehmer, drei Broschüren, drei Zeilen aus Martin Heideggers Text “Was heisst Denken?” und drei aufeinanderfolgende Aktionen begleitet von einem Metronom.
Von den Künstlern hergestellte Broschüren:
1. “Chiromantie der Flecken”
2. “Die Geheimnisse der indischen Küche”
3. “Eine Anleitung zum Malen von Winterlandschaften”
Aktionen:
1. Entzünden eines Ziegelsteins
2. Augen verbinden.Zwei Teilnehmern werden die Augen verbunden, die verbundenen Augen werden mit Tinte auf dem Verband markiert (die dritte Person malt Augen auf Glasscherben, mittels eines Klebebandes am Kopf fixiert). Dies geschieht durch die zweite, bereits “blinde” Person).
3. Feuer im Löffel entzünden.
Heideggers Zeilen:
1. “In das, was Denken heißt, gelangen wir, wenn wir selber denken. Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen.”
2. “Sobald wir uns auf dieses Lernen einlassen, haben wir auch schon zugestanden, dass wir das Denken noch nicht vermögen.”
3. “Aber der Mensch heisst doch der, der denken kann – und das mit Recht.”
Vadim Flyagins Projekt „Einsamer Mann möchte kennen lernen“ ist in der Ausstellung mit einem Foto und einen Begleittext vertreten. Die Aufnahme hält einen nackten Mann mittleren Alters in einer Rückansicht fest. Wie der Name der Arbeit erahnen lässt, ähnelt der Begleittext den weitverbreiteten Anzeigen für eine Partnervermittlung. Der Text besteht nicht wie gewohnt aus wenigen Sätzen, sondern enthält 98 Punkte, durch die sich der Künstler im Detail beschreibt: Körpergröße, Gewicht, Anzahl der Zähne, die noch geblieben sind. Er hört jedoch damit nicht auf, gräbt tiefer und offenbart uns seine Gewohnheiten, Ängste und Wünsche. Flyagin berichtet, dass er gerne seine Nägel pflegt; dass er seit vier Jahren im Hinterzimmer der Borey Galerie lebt und sich für einen Alkoholiker mit einer psychologischen Abhängigkeit und den daraus resultierenden abstoßenden Folgen hält. Zum gegebenen Zeitpunkt ist er sich dessen bewusst und kämpft gegen die Krankheit an. In zufälliger Reihenfolge teilt er die Fakten seines Lebens mit: bis zu seinem 10. Lebensjahr habe er mit seiner Mutter im selben Bett geschlafen, weil er ihre Achselhöhlen gerne gerochen habe. Als verheirateter Mann habe er seine Frau nicht betrogen, vielleicht liebe er sie sogar. Seine Tochter und Ex-Frau habe er seit vier Jahren nicht mehr gesehen und mache sich deswegen sorgen.
Es scheint, als versuche der Künstler, sein Wesen möglichst genau zu beschreiben, um verständlich zu machen, was ihn als Person und Persönlichkeit auszeichnet: körperliche Daten, Ängste und Wünsche, Erfahrungen bis hinein in intime Lebensbereiche. Das Projekt selbst wurde nie als Kontaktanzeige veröffentlicht. So war es auch bei vielen anderen Aktionen der Holzköpfe. In meist sehr einfachen, oft spontanen Ideen mit einem Hang zum Lächerlichen spiegelten ihre performativen Praktiken den Geist ihrer Zeit wider und versuchten, den Alltag durch ein Prisma zu zeigen. Die Gruppe nahm so eine Art Narren-Rolle ein: sie gingen, oft überspitzt, auf soziale Fragen ein, zogen die Betrachtenden ins Geschehen und forderten sie auf, im Hier und Jetzt zu leben.
P.S. Wie sich herausstellte, wurde das große, mit Blumen bemalte und mit dem Schriftzug „Fahren Sie zur Hölle, Liebhaber der Kunst!“ geschmückte Banner erstmals anlässlich der Eröffnung des Museums für Moderne Kunst in St. Petersburg ausgehängt. Mit diesem bissigen Kommentar sprach sich die Bruderschaft der neuen Holzköpfe für die neue Kunst aus, der das Publikum oft skeptisch gegenüberstand.
Die Ausstellung kann bis zum 26. Mai 2019 besucht werden.